Alt Text !Als Aufgabe für den zweiten Praktikumsbericht sollten die Schüler*innen eine Person zweimal zehn Minuten lang beobachten und diese Beobachtungen schriftlich dokumentieren. Da man nur beobachten kann, was die Person tut bzw. wie sie sich verhält, sollte bei der Auswertung der Fokus auch darauf liegen, welche Stärken die Person zeigt und was sie alles kann, und nicht darauf, was sie alles NICHT kann. Der Blickwinkel der Schüler sollte also, weg vom defizitorientierten Ansatz, hin zu vorhandenen Ressourcen der Person gelenkt werden.  Bettina Sterr

Ich habe mir niemals so viele Gedanken über einen Menschen gemacht wie bei der Auswertung meiner Beobachtungen zu Frau N. Als ich las, dass die Stärken einer Person im Vordergrund stehen sollen, war ich ehrlich gesagt ein wenig ängstlich. Ich wusste natürlich, dass jeder Mensch Stärken und Kompetenzen hat, aber als ich nachgedacht habe, welche Frau N. haben könnte, konnte ich erst einmal nichts schreiben. Dazu kannte ich sie einfach zu wenig oder auch viel zu kurz. Um ehrlich zu sein, wusste ich nicht, dass es als Selbstkompetenz gilt, wenn man weiß, an welchen Sachen man selber Spaß hat, was bei Frau N. z. B. das Weihnachtsliedersingen war, und dass feinmotorische, grobmotorische und kognitive Fähigkeiten zum Einsatz kommen, wenn Frau N. nach ihrer Kaffeetasse greift und einen Kaffee trinkt. Unter dem Wort „Stärken” hatte ich zunächst etwas komplett anderes verstanden. Durch diesen Bericht hatte ich die Chance, Stärken und Fähigkeiten aus der psychologischen und pädagogischen Sicht zu sehen.

Ich finde es sehr bewundernswert, dass Frau N. trotz ihrer Demenz noch so deutliche persönliche Qualitäten besitzt. Einmal hat sie geäußert, dass sie das Wetter schön findet und ihre Sitznachbarin gefragt, was sie denn über das Wetter denken würde. Als diese eine andere Meinung als Frau N. hatte und sagte, es sei heute nicht schön, weil es sehr kalt wäre, akzeptierte Frau N. die Meinung ihrer Sitznachbarin, auch wenn sie nicht derselben Ansicht war. Sie hat also die Meinung anderer stehen gelassen, was für mich eine Eigenschaft eines starken Menschen ist.

Hätte ich meinen Praktikumsbericht nicht schreiben müssen, hätte ich mich wahrscheinlich niemals so intensiv mit den vielfältigen Fähigkeiten von Personen auseinandergesetzt. Ich glaube tatsächlich, dass sich meine Wahrnehmung verändert hat bzw. dass ich mich und andere mit anderen Augen sehe. Wie viel Frau N. kann, war mir vorher nicht bewusst.

Es spielt keine Rolle, ob man an Krankheiten, wie z. B. Demenz, leidet, jeder Mensch hat Stärken. Eine Krankheit definiert nicht den Charakter der Menschen und auch nicht die Stärken. Das ist das, was ich mitgenommen habe. Wir Menschen sehen aber meistens nur das Schlechte in anderen und übersehen oft die Fähigkeiten. Schöner wäre es doch, wenn es andersherum wäre. Versuchen wir doch alle einmal, die Schwächen von anderen zu vergessen und uns dafür auf die Stärken zu konzentrieren. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir uns so das Leben um einiges erleichtern.

Madia Mohibi